Neben den Pyramiden von Meroe gibt es für die frühen Reisenden im Sudan ein Standard-Motiv, das sich bei Linant de Bellefonds ebenso findet wie bei Frederic Cailliaud und Richard Lepsius und das Fürst Pückler Muskau 1837 als Tempel beschreibt, '...der im verdorbensten römischen Stil widerlicher Überladung den völligen Verfall der Kunst verrät, obgleich er zum Teil mit ägyptischen Verzierungen, aber ohne Hieroglyphen und Bildwerken, ausgeschmückt ist, mehr den phantastischen Undingen in einer unsrer älteren Gartenanlagen als einem den Göttern geweihten religiösen Gebäude ähnlich '.
In eine vernichtende Wertung verpackt, benennt diese knappe Beschreibung den noch wesentliche Beobachtungen, eine römische und eine ägyptische Komponente der Architektur, und indirekt die Sonderstellung dieses Gebäudes in stilistischer wie funktionaler Hinsicht.
Fürst Pückler spricht vom so genannten Römischen Kiosk, der in Naga im Nordsudan unmittelbar vor dem Löwentempel steht und mit ihm zusammen das Wahrzeichen dieser antiken meroitischen Stadt ist. Die Ratlosigkeit des kunstsinnigen Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts vor diesem Stilgemisch hält bis heute an. Außer einem Versuch der Datierung und Einordnung von Seiten der klassischen Archäologie (Theodor Kraus im Archäologischen Anzeiger 1964) hat sich die Architekturgeschicht bislang um diesen Problemfall gedrückt, den Th. Kraus als 'eine der merkwürdigsten und großartigsten Begegnungen der meroitischen mit der römischen Kunst' würdigt.
Der Kern des Problems liegt darin, dass bislang eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Aufnahme und Publikation des Bauwerks nicht vorliegt. So ist der Römische Kiosk seit Beginn des Naga-Projekts des Ägyptischen Museums Berlin eine der Prioritäten des Arbeitsprogramms gewesen. Sie musste jedoch aus mehreren Gründen zurückgestellt werden. Eine Bauaufuahme setzt die Freilegung des Bauwerks voraus, dessen unterer Teil tief im angeschwemmten Boden des während der Regenzeit überfluteten Wadi Awatib steckt; die Freilegung aber ist angesichts des fragilen Zustands der Architektur ohne synchron laufende Beobachtung und Betreuung durch Restauratoren nicht möglich. Restaurierungsarbeiten sind aus den Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die der wichtigste Finanzträger des Naga-Projekts ist, nicht abrechenbar. So muss es das Anliegen des Projekts sein, Drittmittel für die Sicherung und Restaurierung des Römischen Kiosks einzuwerben. Die Voraussetzung dafür ist eine fundierte Machbarkeitsstudie und eine darauf aufbauende Kostenschätzung.
Während der Kampagnen 2002 und 2003 konnten die im Amun-Tempel tätigen Restauratoren des Berliner Teams 'Restaurierung am Oberbaum' die Basisdaten für ein Restaurierungsprojekt am Römischen Kiosk zusammentragen, und am Ende der Kampagne 2003 wurden durch mehrere Sondagen wichtige Informationen für eine künftige Bearbeitung des Kiosks gewonnen.
Die Freilegung der Südostecke des Bauwerks erlaubt einen Einblick in die verschüttete unterste Zone der Architektur und in ihre Fundamente. Das antike Begehungsniveau liegt 70 Zentimeter unter der heutigen Oberfläche, so dass die gedrungenen Proportionen des sichtbaren Bauwerks sich in eine hoch aufragende schlanke, elegante Silhouette verwandeln. Das Fundament wird von zwei Lagen großformatiger Sandsteinblöcke gebildet, die keinerlei Setzungen, Verschiebungen oder Schäden aufweisen.
Es darf also angenommen werden, dass die antike Fundamentierung weiterhin tragfähig ist. Damit erweisen sich die zunächst angestellten Überlegungen, den kleinen Tempel abtragen und mit einem neuen Fundament versehen zu müssen, als verzichtbar.
Gleichzeitig stellt sich die grundsätzliche und nicht reizlose Frage, ob eine Totalrestaurierung mit dem Ziel der Wiederherstellung des ursprünglichen Erscheinungsbildes des Kiosks die einzig vorstellbare Konzeption darstellt. Der intensive Umgang mit Fragen der Denkmalpflege im Rahmen der Generalsanierung der Berliner Museumsinsel hat die Sensibilität für originale Bausubstanz geschärft, und so erscheint es durchaus vorstellbar, dem Kiosk von Naga, der nicht zuletzt durch die Romantik seines ruinösen Zustands besticht, sein vertraut gewordenes Erscheinungsbild zu belassen und den restauratorischen Eingriff darauf zu beschränken, die Ruine zu konsolidieren. Das schließt die Festigung der aus weichem Sandstein gemeißelten Kapitelle ein, die unter dem Druck der aus extrem dichtem Sandstein gefertigten mächtigen Architrave zerdrückt und in ihrer Struktur weitgehend zerstört sind.
Ein teilweiser Abbau des Gebäudes ist sicherlich unvermeidbar, um diese restauratorischen Arbeiten durchführen zu können. Ein Wiederaufbau könnte aber durchaus die Wiederherstellung des jetzigen Erscheinungsbildes zum Ziel haben.
Eine zweite Sondage in der inneren Südwestecke des Kiosks, bei der geklärt werden sollte, ob das Fundament flächig unter dem gesamten Bauwerk verläuft, erbrachte einen unerwarteten und aussagekräftigen Fund. Wir wurden durch unsere Grabungsarbeiter aufmerksam gemacht, die plötzlich Bagara! riefen, Kuh!
Dicht unter der heutigen Oberfläche lag ein großer Sandsteinblock, dessen eine Seite in kräftigem Relief einen Hathorkopf trägt, ein frontal wiedergegebenes Frauengesicht mit Kuhohren. Dieser kopfüber liegende Block saß ursprünglich als Türsturz über der Innenseite des Westtors des Kiosks, das zum Löwentempel führt.
Der Hathorkopf gibt dem Kiosk eine funktionale Deutung im Zusammenhang mit der in der meroitischen Religion gut bezeugten Göttin, so dass es nahe liegt, den irreführenden Begriff 'Kiosk' künftig durch 'Hathorkapelle von Naga' zu ersetzen. Die stilistische Ausführung des Kopfes weist in die klassische meroitische Epoche um die Zeitenwende, also in die Zeit, in der unter Natakamani und Amanitore der direkt hinter der 'Hathorkapelle' liegende Löwentempel von Naga errichtet wurde.
Eine direkte Beziehung zwischen beiden Gebäuden liegt schon angesichts ihrer engen Nachbarschaft nahe, wurde aber bislang durch die von Th. Kraus vorgeschlagene Datierung des 'Kiosks' ins 3. oder gar 4. Jahrhundert nach Christus als problematisch angesehen. Eine Datierung in sehr viel frühere Zeit eröffnet neue Perspektiven. Die aus der Mittelachse gerückte Lage der 'Hathorkapelle' vor dem Löwentempel findet in Naga Parallelen beim Tempel 'F' und beim Hochaltar vor dem Amun- Tempel und ist eine architektonische Konstellation, die einen auch an mehreren anderen Orten begegnet - so am 'Sonnentempel' in Meroe und beim Palast in Wad Ban Naga.
Das Projekt der Freilegung und Restaurierung der 'Hathorkapelle von Naga' wird im Sommer 2003 ausgearbeitet vorliegen, so dass die Finanzierung aus Drittmitteln in Angriff genommen werden kann. Die Bedeutung und, wie wir glauben, Faszination des Projektes liegt darin, dass die 'Hathorkapelle' das südlichste Ende der hellenistischen Welt bezeichnet, die Grenze - oder doch wohl eher Brücke zu Afrika. Hellenistisch-römische, pharaonisch-ägyptische und meroitische Elemente verbinden sich zu einer architektonischen Schöpfung eigener Wertigkeit. In der 'Hathorkapelle' hat der Dialog der Kulturen architektonische Gestalt gewonnen, hier artikuliert sich Tausende von Kilometern südlich des Mittelmeeres der Einfluss der griechich-römischen Weh, hier finden wir das südliche Gegenstück zu den hellenistischen Aspekten der Kunst der Skythen und Germanen.
Dietrich Wildung
(Artikel der Mitgliederzeitschrift aMun)